Montag, 10. Juni 2024
Zwischen Sekunden
Es ist etwas im Wetter. Die Dunkelheit zieht sich ihr Nachthemd an und versinkt in der Psyche. Zumindest sträubt sich mein molekulares System, in irgendeiner Form teilzunehmen. Ich glaube nicht, was ich sehe, denn was ich sehe ist nicht für ein Gläubchen zu haben, weshalb ich mir eben nur jene Dinge besehe, die direkt mit mir in Verbindung stehen können. In irgendeiner Form wartet man immer auf den Tod; was man zwischendrin gesehen, kann man getrost mitnehmen. Auch habe ich immer mehr Lust, auf die Dinge zwischen den Dingen zu hören. Gut, es schlägt die Uhr, und gut, sie tickt auch, aber eine Sekunde ist so verdammt lang, dass man dazwischen recht gut mehrere Jahre in Ruhe leben kann.

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Samstag, 8. Juni 2024
Träumen oder wachen
Als ich noch zur Schule ging, wunderte ich mich bereits über die Welt, die daraus bestand, die Frage nach dem Alter zu beantworten. Wusste man das, war das Sternzeichen dran. Natürlich wäre es unsinnig anzunehmen, man bekäme als dreijähriger die Frage nach dem Jenseits gestellt.
"Kannst du dich daran erinnern, wie es war, bevor du geboren wurdest?"
Die Antwort wäre ohnehin nein gewesen, denke ich mir jetzt. Aber was wäre gewesen, wenn man sie mir damals gestellt hätte? Hätte ich etwas dazu sagen können?
"Weißt du, wo du dich befindest?"
Ich wusste nur, dass alles verschwimmt, wenn man es zu lange anstarrt. Ich wusste, dass ich wie in einem bierseligen Rausch umher lief, ohne wirklich besoffen zu sein. Ich träumte, wie ich lebte, da gab es keinen nennenswerten Unterschied. Ich lag im Bett, schloss die Augen und war immer noch draußen vor dem Haus. Die einzige Ausnahme war vielleicht, dass ich im Traum schwerelos war und herumfliegen konnte. Es war mir ein leichtes, über die Telefonleitungen zu hüpfen. Das ging soweit, dass ich bei Tag Angst bekam, wie ein Ballon aufzusteigen und nicht mehr nach unten zu kommen. Träumen oder Wachen waren tatsächlich dasselbe, aber wenigstens hatte ich bei Tag etwas Gewicht. Selbst wenn ich nur ein Kilo gewogen hätte, sagte ich mir, bliebe ich unten, denn ein Milchbeutel schwebt auch nicht einfach davon. Aber davon wollten die Leute nichts wissen, sie fragten mich nur, wie alt ich sei und warum mich meine Eltern nicht zum Friseur schleppten. Nun, es waren die 70er, da gab es keine Friseure.

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Freitag, 7. Juni 2024
Ein Abbild
Es ist schon wahr: ich wusste nie, wer ich war; vor allem deshalb nicht, weil jemand zu sein abhängst von einer Illusion, die man in anderen implementieren kann. Wir lernen also, jemand zu sein, indem wir jemand für andere sind. Doch das haben wir nicht in der Hand. Irgendwann konnte ich mir unter all den Modellen, die es von mir gab, das aussuchen, zu dem es mich am meisten hinzog. Doch es gab keines, mit dem ich mich identifizieren konnte. Mein eigenes Modell war dabei ebenso falsch wie das all jener, die sich große Mühe mit einem Abbild von mir gaben. Wir scheiterten alle.

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Donnerstag, 6. Juni 2024
Im Gefüge herumkratzen
Im Gefüge herumkratzen. Es ist wie einen Körper betrachten. Es hat einen Grund, warum wir ausgerechnet diese Gestalt haben und keine andere. Wir sind immer und zu jeder Zeit, wer wir sein wollen. Und das Schöne ist: Nichts existiert wirklich, alles wird nur von Gedanken aufrecht erhalten, von unseren Beschreibungen und Erzählungen. Die aber wirken, weben also Welt.

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Mittwoch, 5. Juni 2024
Alles Geisterhafte war mir von Anfang an vertraut
Alles Geisterhafte war mir von Anfang an vertraut. Kein Ort, an dem ich jemals war, der nicht von einem Spuk heimgesucht worden wäre, auch wenn ich längst und viele Jahre schon mein eigener Dämon bin. Doch es könnte sein, dass Geister auch mit der Jugend verschwinden; sie verschwinden vor allem dann, wenn man sie nicht mehr sucht, weil man ein Teil von ihnen geworden ist. Dadurch kehrt eine äußerliche Ruhe ein.

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Dienstag, 4. Juni 2024
Vom Verschwinden
Sobald man das Verschwinden zum ersten Mal beobachtet hat, weiß man einiges von der Welt. Doch wirklich reizvoll wird es erst dann, wenn die Erinnerung einsetzt und ihre Kapriolen dreht. Wenn man nicht einmal sicher sagen kann, was man eigentlich gesehen hat, ist es nahezu unmöglich, die Vergangenheit lückenlos und in richtiger Reihenfolge heraufzubeschwören. Das sind die wahren Gespenster, und die Vergangenheit ist das wirkliche Jenseits. Besessen von der Idee zurückzukehren, ging ich die Wege rückwärts. Sie wurden verbraucht und lange nicht mehr benutzt, denn eines muss man wissen: Alle Wege werden geteilt und nur die Anordnung aller Gassen, die man halbblind durchstieß, ergeben schließlich den eigenen Weg. Die meisten vergisst man und so lässt sich niemals auf das Ganze schließen.

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Montag, 3. Juni 2024
Erschaffung der Realität
Die experimentelle Prosa wird dadurch gekennzeichnet, dass man auf etwas stößt, dass einem noch nie vorher begegnet ist, sei es eine Idee oder eine spezielle Form oder ein bestimmter Bruch im Rhythmus, und dadurch viele Möglichkeiten der Reflexivität ermöglicht werden. Diese Art der Prosa ist tendenziell nachdenklich und nicht-normativ, kann also durch veränderte Zustände, Theorien, Geschichte, Poetik, Literaturkritik und Kunst hervorgerufen sein, wenn auch nicht unbedingt durch eine bewusste Absicht. Der Text neigt dazu, emergent und obskur zu sein, möglicherweise kommentiert er seine eigene Entstehung.

Experimentelle Prosa wirbt um Abschweifung und Herausforderung. Das bedeutet natürlich auch, dass der Autor sich darüber bewusst sein sollte - wie auch der Leser - dass Schreiben (das Erschaffen von Kunst ganz allgemein) Realitäten erst erzeugt. Die ethische Wertigkeit ist klar: Literatur wirkt immer auf eine wie auch immer geartete Realität ein. Anstatt einen "realistischen" Charakter zu konstruieren, der wie Frankensteins Monster aus verstreuten, potentiell funktionalen, willkürlichen Teilen zusammengesetzt ist, könnte ein gegebener (oder entstehender) Text selbst als so etwas wie eine Person oder ein Monster verstanden werden. Ein Text könnte einer Stadt, einem Ort ähneln, nicht weil er einen solchen beschreibt (obwohl er das könnte), sondern weil das Lesen (und das Schreiben) das lebendige Sein in einem fiktiven Irgendwo stattfinden lässt, das vielleicht auch das Sein von jemand anderem ist.

Die größte Angst des Dichters - und zugleich seine Faszination - ist seit Arthur Rimbaud die Möglichkeit, die ganze Zeit jemand anders gewesen zu sein. Das bedeutet aber auch, dass das "Ich" nicht gegeben, sondern zusammengesetzt ist, vererbt, historisch, ontologisch und seltsam seriell, propositional. Was wird aus dem Mechanismus der ersten Person oder des Charakters, wenn eine bestimmte Fiktion sie als Mechanismus entlarvt, wie es in der postmodernen Literatur Gang und Gäbe ist?

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Sonntag, 2. Juni 2024
Die Rose ist ohne Warum
Wir haben nie etwas voneinander gewusst, sahen uns jeden Tag, verbrachten Jahre miteinander und lernten das Leben kennen, das man uns versprach. Das Wunder ist nicht auszuschließen, aber rechnen dürfen wir nicht mit ihm.

Heute sage ich: Wo warst du? Wir haben das Leben zusammen kennengelernt, wo sind die anderen?

Und du sagst: Ich war fort, ich weiß nicht, wo ich war. Ich habe nichts besser gemacht. Ich hätte jung bleiben wollen. Es gab keine Gelegenheit dazu.

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Am Torwächter vorbei
Wenn man nicht laut genug ist, schafft man es nicht am Torwächter vorbei, der sich im Laufe der Zeit immer mehr auf Sonorik begrenzte. Er fuchtelt dabei kaum mit seinen langen Armen, lässt die Kindlein zu ihm kommen, sieht aber nichts mehr - oder versteht nicht, was er sieht.

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