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Dienstag, 4. Juni 2024
Vom Verschwinden
bouquinist, 14:09h
Sobald man das Verschwinden zum ersten Mal beobachtet hat, weiß man einiges von der Welt. Doch wirklich reizvoll wird es erst dann, wenn die Erinnerung einsetzt und ihre Kapriolen dreht. Wenn man nicht einmal sicher sagen kann, was man eigentlich gesehen hat, ist es nahezu unmöglich, die Vergangenheit lückenlos und in richtiger Reihenfolge heraufzubeschwören. Das sind die wahren Gespenster, und die Vergangenheit ist das wirkliche Jenseits. Besessen von der Idee zurückzukehren, ging ich die Wege rückwärts. Sie wurden verbraucht und lange nicht mehr benutzt, denn eines muss man wissen: Alle Wege werden geteilt und nur die Anordnung aller Gassen, die man halbblind durchstieß, ergeben schließlich den eigenen Weg. Die meisten vergisst man und so lässt sich niemals auf das Ganze schließen.
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Montag, 3. Juni 2024
Erschaffung der Realität
bouquinist, 09:57h
Die experimentelle Prosa wird dadurch gekennzeichnet, dass man auf etwas stößt, dass einem noch nie vorher begegnet ist, sei es eine Idee oder eine spezielle Form oder ein bestimmter Bruch im Rhythmus, und dadurch viele Möglichkeiten der Reflexivität ermöglicht werden. Diese Art der Prosa ist tendenziell nachdenklich und nicht-normativ, kann also durch veränderte Zustände, Theorien, Geschichte, Poetik, Literaturkritik und Kunst hervorgerufen sein, wenn auch nicht unbedingt durch eine bewusste Absicht. Der Text neigt dazu, emergent und obskur zu sein, möglicherweise kommentiert er seine eigene Entstehung.
Experimentelle Prosa wirbt um Abschweifung und Herausforderung. Das bedeutet natürlich auch, dass der Autor sich darüber bewusst sein sollte - wie auch der Leser - dass Schreiben (das Erschaffen von Kunst ganz allgemein) Realitäten erst erzeugt. Die ethische Wertigkeit ist klar: Literatur wirkt immer auf eine wie auch immer geartete Realität ein. Anstatt einen "realistischen" Charakter zu konstruieren, der wie Frankensteins Monster aus verstreuten, potentiell funktionalen, willkürlichen Teilen zusammengesetzt ist, könnte ein gegebener (oder entstehender) Text selbst als so etwas wie eine Person oder ein Monster verstanden werden. Ein Text könnte einer Stadt, einem Ort ähneln, nicht weil er einen solchen beschreibt (obwohl er das könnte), sondern weil das Lesen (und das Schreiben) das lebendige Sein in einem fiktiven Irgendwo stattfinden lässt, das vielleicht auch das Sein von jemand anderem ist.
Die größte Angst des Dichters - und zugleich seine Faszination - ist seit Arthur Rimbaud die Möglichkeit, die ganze Zeit jemand anders gewesen zu sein. Das bedeutet aber auch, dass das "Ich" nicht gegeben, sondern zusammengesetzt ist, vererbt, historisch, ontologisch und seltsam seriell, propositional. Was wird aus dem Mechanismus der ersten Person oder des Charakters, wenn eine bestimmte Fiktion sie als Mechanismus entlarvt, wie es in der postmodernen Literatur Gang und Gäbe ist?
Experimentelle Prosa wirbt um Abschweifung und Herausforderung. Das bedeutet natürlich auch, dass der Autor sich darüber bewusst sein sollte - wie auch der Leser - dass Schreiben (das Erschaffen von Kunst ganz allgemein) Realitäten erst erzeugt. Die ethische Wertigkeit ist klar: Literatur wirkt immer auf eine wie auch immer geartete Realität ein. Anstatt einen "realistischen" Charakter zu konstruieren, der wie Frankensteins Monster aus verstreuten, potentiell funktionalen, willkürlichen Teilen zusammengesetzt ist, könnte ein gegebener (oder entstehender) Text selbst als so etwas wie eine Person oder ein Monster verstanden werden. Ein Text könnte einer Stadt, einem Ort ähneln, nicht weil er einen solchen beschreibt (obwohl er das könnte), sondern weil das Lesen (und das Schreiben) das lebendige Sein in einem fiktiven Irgendwo stattfinden lässt, das vielleicht auch das Sein von jemand anderem ist.
Die größte Angst des Dichters - und zugleich seine Faszination - ist seit Arthur Rimbaud die Möglichkeit, die ganze Zeit jemand anders gewesen zu sein. Das bedeutet aber auch, dass das "Ich" nicht gegeben, sondern zusammengesetzt ist, vererbt, historisch, ontologisch und seltsam seriell, propositional. Was wird aus dem Mechanismus der ersten Person oder des Charakters, wenn eine bestimmte Fiktion sie als Mechanismus entlarvt, wie es in der postmodernen Literatur Gang und Gäbe ist?
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Sonntag, 2. Juni 2024
Die Rose ist ohne Warum
bouquinist, 15:14h
Wir haben nie etwas voneinander gewusst, sahen uns jeden Tag, verbrachten Jahre miteinander und lernten das Leben kennen, das man uns versprach. Das Wunder ist nicht auszuschließen, aber rechnen dürfen wir nicht mit ihm.
Heute sage ich: Wo warst du? Wir haben das Leben zusammen kennengelernt, wo sind die anderen?
Und du sagst: Ich war fort, ich weiß nicht, wo ich war. Ich habe nichts besser gemacht. Ich hätte jung bleiben wollen. Es gab keine Gelegenheit dazu.
Heute sage ich: Wo warst du? Wir haben das Leben zusammen kennengelernt, wo sind die anderen?
Und du sagst: Ich war fort, ich weiß nicht, wo ich war. Ich habe nichts besser gemacht. Ich hätte jung bleiben wollen. Es gab keine Gelegenheit dazu.
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